Vier Monate lang arbeitete ich als Wander-Guide auf Sardinien. Eine der intensivsten, lehrreichsten und emotionalsten Zeiten meines Lebens ist nun zu Ende.
Wenn mein Flieger am 7. September 2018 um 9:40 Uhr vom sardischen Boden abheben wird, geht eine der bislang bedeutsamsten Phasen meines Lebens zu Ende. Vier Monate auf Sardinien. Vier Monate als Wander-Guide auf dieser wunderbaren Insel. Vier Monate lang durfte ich Gäste durch die Berge, über Strandabschnitte, durch Macchia und Pinienwälder führen. Auf heißen, staubigen Pisten sind wir gewandert, haben steinige Pfade erkundet, Gipfel erklommen, haben uns in eine der tiefsten Schluchten Europas gewagt und uns hinterher an einem Cappuccino und/oder Gelato erfreut. Seit der Buchung meines Rückflugtickets nach Deutschland befinde ich mich im emotionalen Abschiedsmodus.
Vier Monate lang durfte ich einen Einblick gewinnen, wie die Menschen hier leben, wie sie ticken, was sie umtreibt, was sie begeistert und traurig macht. Da ist zum Beispiel Ayres, ein Sarde mit katalanischen Wurzeln, klein und zierlich, gesegnet mit einem wundervollen hintergründigen Humor. Ayres arbeitet als Servicekraft in dem Hotel, in dem auch ich tätig war. In den letzten Wochen begrüßte er mich jeden Morgen zum Frühstück mit einem witzigen „Buongiorno, agente Davide!“ „Guten Morgen, Agent David!“ Warum er das tat, erklärte er mir einmal bei einem Bier an der Poolbar. Es hatte mit meiner Flieger-Sonnenbrille zu tun, und mit ihr sah ich wohl aus wie ein CIA-Agent oder irgendein anderer Spion, den er vielleicht einmal im Fernsehen gesehen hatte. Ab und an schenkte er mir auch ein Croissant zum Frühstück (man beachte, dass Croissants, auf Italienisch: Cornetti, hier im Hotel grundsätzlich den italienischen Gästen vorbehalten sind) oder brühte mir einen frischen Kaffee aus der Siebträger-Maschine. Kleine Gesten, die mir oft den Start in den Tag versüßten.
Dann ist da Luca, der Barkeeper. Luca wohnt in Orosei, der Kleinstadt in rund zehn Kilometer Entfernung zum Hotel. Er lebt allein mit seinen Eltern, auf die er wegen ihres Alters Acht gibt. Luca ist ein Professioneller, immer ruhig, immer korrekt, freundlich und bestimmt. So, wie man sich einen Barkeeper vorstellt. Wie sehr liebte ich es, nachmittags bei heißen Temperaturen einen Radler an der Poolbar zu trinken. Oder abends nach dem Essen ein Gläschen des leicht-herben und nicht zu süßen italienischen Kräuterlikörs „Montenegro“. Auf Eis und mit einer halben Scheibe Orange. Luca sah mir meist schon an, nach welchem Getränk mir der Sinn stand. Weil Sardinien bezüglich der Möglichkeiten Arbeit zu bekommen eigentlich nur zwei Jahreszeiten kennt, Sommer und Winter, muss auch Luca zusehen, wo er in der „toten Zeit“, sprich im Winter, seine Brötchen verdient. Dann stellt der Großteil der Insel nämlich seinen Dienst ein. Die Bars und Hotels schließen und die Einheimischen sitzen entweder in den noch verbliebenen offenen Bars oder gehen aufs Festland. Luca erzählte mir, dass er diesen Winter wahrscheinlich nach Deutschland gehen wird, um Deutsch zu lernen. In Barcelona lebte er bereits, doch das Heimweh war zu stark, weshalb er auf seine geliebte Insel zurückkehrte.
Mit meiner Arbeit als Wander-Guide auf Sardinien schlage ich ein wertvolles und in vielerlei Hinsicht lehrreiches Kapitel meines Lebens zu. Vielleicht eines meiner bislang lehrreichsten. Warum bin ich dieser Ansicht? Wie ich schon im vorangegangenen Blogartikel schrieb, habe ich in diesem Job sehr unterschiedliche Rollen eingenommen. Die wichtigste war natürlich die Betreuung der Gäste. Und dabei habe ich nahezu alle Facetten des zwischenmenschlichen Miteinanders durchlebt. Wie es eben so ist, wenn Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Wie es eben so ist, wenn Ansprüche und Erwartungen bestehen, die das ein oder andere Mal derart hoch sind, dass sie so gut wie nicht erfüllt werden können. Nein, dass sie NICHT erfüllt werden können. Die Grenzen sind hier fließend, der Graubereich durchaus groß, wenn es darum geht, welche Dienstleistungen, welches Engagement zum Job gehören, was zusätzlich noch geleistet wird (oft erfolgt dies aus eigenem persönlichen Antrieb oder aus eigener Motivation heraus, was mit dem Jobprofil nichts zu tun hat) oder was gar nicht geht. Es ist wie in einer Partnerschaft: Wenn ich vom Anderen Dinge erwarte, weil ich schlichtweg der Meinung bin, ich hätte einen Anspruch darauf, kann es nur in die Hose gehen. Wenn ich der Meinung bin, der Andere ist dazu da, um mich glücklich zu machen, läuft die ganze Beziehung geradewegs in die Krise.
Gäste geben nach der Ankunft am Urlaubsort ihr Gehirn ab
Was hat diese Erkenntnis nun mit meiner Arbeit als Wander-Guide zu tun? Viel, sehr viel sogar. Gäste geben nach der Ankunft im Hotel ihr Gehirn ab. Dieser Satz wurde mir oft gesagt, bevor ich meine Arbeit auf Sardinien begann. Und ja: Der Satz ist wahr. Ich habe das selbst erlebt, wobei es auch hier nicht ausschließlich ein Schwarz und Weiß gibt, sondern einen recht großen Graubereich – in dem ist aber alles möglich. Ein Beispiel: Einige Gäste schienen mich mit einem Botaniker oder Zoologen zu verwechseln, was ihre Fragen zur lokalen Flora oder Fauna betraf. Sicher sollte ein Wander-Guide auch einige Pflanzen der Gegend kennen, in der er wandert. Wenn die dann noch am Wegesrand wachsen und er sie live und in Farbe zeigen kann – wie auf Sardinien beispielsweise den wilden Fenchel, Lavendel oder Rosmarin – steigert das den Erlebniswert einer Wanderung um ein Vielfaches. Aber sollte, ja muss ein Wander-Guide zu sämtlichem Grünzeug Auskunft geben können? Ich denke nein. Irgendwann schaltete ich auf den berühmten Durchzug, wenn etwa ein Vogel zwitscherte und ich gefragt wurde, welcher das denn nun sei.
Diese Fälle gehören noch zu den einfachen. Es gibt aber auch solche, die lösen im Nachhinein ein mitunter mehrtägig anhaltendes Kopfschütteln aus. Tage später fällt einem dann ein, um was es beispielsweise bei der Frage eines Gastes in Wirklichkeit ging. Nicht um einen Vogel, der am Wegesrand fröhlich sein Liedchen trällert, nicht um den Kaktus, von dem man wissen möchte, warum es den auf Sardinien so häufig gibt, und auch nicht um den bunten Schmetterling, dessen Namen man vor der Abreise nun noch unbedingt wissen möchte. Nein, es geht, so meine Erfahrung, in vielen Fällen nicht um die Vermehrung des eigenen Wissens – es geht in Wahrheit um persönliche Aufmerksamkeit. Viele Gäste wollen offensichtlich das Gefühl haben, man sei ausschließlich für sie da. Man soll sich um sie kümmern, für sie da sein. Diese Feststellung betrifft hauptsächlich eine gewisse weibliche Single-Klientel im Alter von Mitte bis Ende 40. Viele Fragen, die mir gestellt wurden, sind deshalb auch einfach nur banal, denn die Antwort darauf reicht, um das Gefühl des „da ist jemand für mich da“ auszulösen. So durfte ich eines Morgens beim Frühstück folgende Frage eines weiblichen Gastes über mich ergehen lassen. Sie betraf den Joghurt, den wir uns jeden Morgen vom Frühstücksbuffet aus einer großen silbernen Schüssel in Glasschälchen füllten: „Ist der Joghurt aus Kuh- oder Schafsmilch? Er hat so einen seltsamen Beigeschmack.“
Bei dieser Frage fällt zweierlei auf: Zunächst ist nur der eine Teil als Frage formuliert, der andere ist eine Feststellung. Nun kenne ich natürlich nicht das subjektive Geschmacksempfinden mir fremder Personen, aber im ersten Moment dachte ich, dass sich ein Joghurt aus Kuhmilch von einem aus Schafsmilch geschmacklich eigentlich doch recht gut unterscheiden lassen sollte. Ich möchte jetzt nicht ausführlich über die geschmacklichen Eigenschaften von Kuh- und Schafsmilch philosophieren, aber wer Schafskäse kennt, sollte diesen Unterschied eigentlich herausschmecken können. Wie dem auch sei, die Dame lieferte ihre Antwort im Grunde mit: Das kann kein Kuhmilch-Joghurt sein, denn er hat ja einen seltsamen Beigeschmack. Diese Feststellung diente meiner Ansicht nach dazu, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Nicht über den Geschmack von Kuh- oder Schafsmilch, nein, es ging um ein Gespräch an sich. Um eine einfache Antwort auf die Frage nach der Milch im Joghurt zu erhalten, hätte die bloße Frage genügt und ich hätte diese mit „Kuhmilch“ oder „Schafsmilch“ beantwortet. Danach hätten wir uns in aller Ruhe unserem restlichen Frühstück gewidmet. Es hätte keinen Grund für eine pseudo-kulinarische Debatte gegeben. Doch der „seltsame Beigeschmack“ war bewusst gewählt und diente als Aufhänger für meine möglichen Gegenfragen: Ach, nach was schmeckt der Joghurt denn? Was findest du seltsam daran? Was schmeckst du heraus? Im Handumdrehen wären wir im Gespräch gewesen, und genau darum ging es der Dame.
Es mag sich vielleicht auf den ersten Eindruck anmaßend lesen, was ich hier schreibe. Und es ist keineswegs gesichert, dass das stimmt, was ich behaupte. Aber nach vier Monaten lernt man so Einiges an persönlichen Befindlichkeiten kennen, ob man will oder nicht. Und es sind Muster erkennbar, die sich stets wiederholen. „Sprich mit mir! Sieh mich!“ Diese versteckten Botschaften habe ich mehr als ein Mal aus skurrilen Fragen und bizarren Feststellungen herausgehört und herausgelesen. Und in solchen Momenten musste ich die berühmte Reißleine ziehen – und mich zurück. Ansonsten wäre ich tatsächlich in die Rolle des Seelsorgers gefallen, des kümmernden Wander-Guides, aus dem dann recht schnell ein Life-Guide geworden wäre.
Wie Verschwörungstheorien entstehen
Jeden Montag führte ich Gäste auf einer obligatorischen Strand-Wanderung an den Strand von Osalla. Dort wartete Strandbarbesitzer Toni mit frisch zubereiteten Paninis und einer Dorade vom Grill auf uns. Unsere Gäste konnten sich bis zum Vorabend der Wanderung entscheiden, welches Gericht sie verspeisen wollen. Dafür gaben sie mir das Geld in bar und ich übergab es am nächsten Tag Toni. In den sogenannten Familienwochen des Reiseveranstalters, für den ich arbeitete, in denen ausschließlich Familien mit Kindern anwesend waren, kamen da schon mal knapp 1.000 Euro zusammen. Es lässt sich sicher trefflich über diese Form des Geldeintreibens und Bezahlens streiten, denn es birgt immer ein gewissen Risiko, so viel Bargeld mit sich herumzutragen. Sicher ließe sich dieser Prozess vereinfachen, aber das soll hier nicht das Thema sein. Mein Thema ist vielmehr der Einfallsreichtum, den manche Gäste ob solcher Prozesse entwickeln.
Während der Familienwochen scheint ein Gast – eine alleinstehende Dame mit Sohnemann – Spaß an einer Verschwörungstheorie gefunden zu haben. Während ich mit der Essensausgabe an der Standbar beschäftigt war und heftig ins Schwitzen kam, denn immerhin waren rund 100 Speisen für hungrige Gäste zu verteilen, interessierte sie sich offensichtlich für den Prozess der Geldübergabe an Toni. Ein Bündel mit Geldscheinen in der Öffentlichkeit zu übergeben – das kann nie und nimmer mit rechten Dingen zugehen. Und so schrieb die Dame nach ihrer Abreise auch folgerichtig per Whatsapp-Nachricht ein Feedback an unser Team, das sich dieser verdächtigen Praxis widmete. Der Wortlaut:
„Was ich nicht in die offizielle Bewertung schreiben werde, aber loswerden möchte: Ärgerlich sind die offensichtlich privaten Nebengeschäfte bei den Aufenthalten (mit überteuerten Sandwiches usw.).“
In den Augen dieser Dame war ich also am Umsatz für die Paninis und Doraden beteiligt. Liegt ja auch nahe, wenn man einen Umschlag mit Bargeld mit sich herumträgt. Wie viel Arbeit hinter der Organisation dieser Strand-Wanderung steckt, welche Logistik, welche Prozesse letztlich beachtet und eingehalten werden müssen, dafür hat sich diese Dame nicht wirklich interessiert. Es war wohl wichtiger ein Gehirngespinst zu entwickeln, und dieses dann auch noch als wahre Behauptung in den Raum zu stellen. Da die Dame von „Aufenthalten“ sprach, beobachtete sie sicher auch, dass ich im Rahmen unserer sonntäglichen Kennenlern-Wanderung rund ums Hotel mit inkludiertem Eisdielen-Stopp mein Eis stets umsonst bekam. Ein Eis umsonst? So etwas ist ungerecht und geht natürlich gar nicht! Dass ich sie eines schönen Nachmittags mit dem Dienst-Bus zur Apotheke fuhr, weil sie gesundheitliche Probleme mit ihrem Ohr hatte, erwähnte sie natürlich mit keinem Wort. So etwas ist selbstverständlich, wird erwartet. Wie immer bei solchen Feedbacks hatte ich die Wahl, es persönlich zu nehmen oder mit einem Lächeln darüber hinwegzusehen. Für den Umgang mit Gästen empfiehlt sich definitiv die zweite Variante. Wenn die Dame wüsste: Mit ihrer abstrusen Verschwörungstheorie hatte sie es geschafft, dass mir mein geschätzter Kollege Tom den liebenswerten Spitznamen „Don Panino“ verpasste. Seitdem überlege ich übrigens, ganz groß ins Provisionsgeschäft mit Gäste-Geldern einzusteigen.
Ja, die Familienwochen. Vier Wochen, die mich erschöpft haben. Ich fühlte mich ausgelaugt, mental durch den Wind. Rund 100 Gäste schwirrten täglich um mich herum wie die Fliegen, stellten mir schon beim Frühstück Fragen, um mich auf einer Wanderung weiter zu löchern und dann beim Abendessen damit fortzufahren. All das forderte seinen Tribut. Nicht zu vergessen natürlich die Sprösslinge, die sich auf der Hotelanlage verteilten, bis spät in der Nacht die Poolliegen und den Pool belagerten und dabei das sowieso recht schwache WLAN-Netz komplett zum Erliegen brachten. An manchen Tagen bot sich mir weder im großzügigen Hotelgarten noch sonst irgendwo auf der Anlage eine Rückzugsmöglichkeit, die diesen Namen verdient. Da blieb oft nur mein Hotelzimmer – immerhin. Umso entspannter wurde ich nach dieser Zeit, die Anfang August ihr Ende fand. Ganze 28 Gäste durften wir danach begrüßen, und im Frühstücksaal, der während der Familienwochen vom Lärmpegel her der Abflughalle eines Flughafens glich, war es plötzlich totenstill. Um nicht den kleinen, aber wichtigen Nebeneffekt zu vergessen: Die ein Kopfschütteln hinterlassenden Fragen wurden schlagartig weniger.
Ein Dialog der skurrilen Art
Moment, einen hab‘ ich noch. Eines morgens beim Frühstück, ich war fast fertig, entwickelte sich eine Konversation zwischen mir und „Ihm“, Vater einer Tochter. „Er“ begann, mich über eine Wandertour im Gebirge auszufragen. Zum Hintergrund: Ich habe während meiner Arbeit als Wander-Guide ab und an auch eine Tour auf den Gipfel der Punta Catirina geführt. Ein Kalksteinberg im Hinterland, 1.127 Meter hoch. Die Tour gehörte zu einer der anspruchsvolleren in meinem Wander-Repertoire. Wer viel in den Alpen unterwegs ist wie ich, für den stellt diese Route keine besondere sportliche Herausforderung dar. Schon beim Anstieg durch Steineichenwald legt man die meisten der rund 700 zu bewältigenden Höhenmeter zurück. Es geht über griffigen Kalkstein, während sich Wanderern beim Gehen wunderbare Weitblicke tief ins sardische Hinterland erschließen. Oben durchquert man eine nahezu unberührte Hochebene mit Pflanzen, die nur dort wachsen. Einzig der Abstieg verlangt aufgrund des rutschigen Geröllanteils und der Steilheit zu Beginn sicheres Gehen und Vertrauen in die eigenen Füße. Nun war „Er“, der Vater, offensichtlich sehr an dieser Tour interessiert. Daraus entrollte sich folgender Dialog:
Er: Ich bin etwas fußlahm. Kann ich die Tour trotzdem machen?
Ich: Was bedeutet fußlahm?
Er: Ich hatte eine Bauch-OP.
Ich (etwas verunsichert): Okay, ich zeige dir die Tour in meinem Wanderführer, dann kannst du entscheiden, ob sie etwas für dich ist.
Er: Komme ich mit dem Taxi dorthin?
Ich: Ja, aber das ist weiter weg im Inselinneren, somit teuer und es gibt möglicherweise keine Internetverbindung. Nehmt euch besser einen Mietwagen, dann seid ihr flexibler („Er“ ist verheiratet und mit seiner besseren Hälfte angereist).
Sie: Wir fahren nicht gerne so lange im Auto.
Ich: ???
Ich wette 1:100: Jeder Andere und jede Andere, die diesen Dialog mit diesem Gast geführt hätte, wären die drei Fragezeichen ebenso vor dem inneren Auge erschienen wie mir. Es gibt Konversationen, nach denen man sich hinterher fragt, warum man sie überhaupt führte. Diese gehört zweifelsfrei dazu. Dabei wollte ich doch nur helfen, wollte meine Erfahrung als Wander-Guide einbringen, konstruktiv sein. Aber spätestens nach „Ihrem“ Kommentar wurde mir klar, dass ich es hier mit außerordentlich entscheidungsunfreudigen Menschen zu tun hatte, die eigentlich gar nicht wussten, was sie wollten. Die stets Gründe fanden, lieber doch nicht zu dieser Gipfeltour aufzubrechen. Die sich als Paar vermutlich selbst nicht einig waren.
Ich kann nur vermuten, was der wahre Grund für dieses Zaudern und Zweifeln war: die Bauch-OP des Vaters. Er erzählte mir nichts weiter dazu, und ich wollte auch nicht nachhaken. Vor diesem Hintergrund kann ich die mir entgegengebrachte Unsicherheit durchaus nachvollziehen, ein Urteil darüber steht mir nicht an. Das Interessante, und auch irgendwie Beängstigende für mich als Wander-Guide und Gäste-Betreuer an dieser Konversation aber ist, dass ich darin – bewusst oder unbewusst – in die Rolle eines Quasi-Entscheiders gedrängt wurde. Wie hätte ich ohne genaue Kenntnis der gesundheitlichen Umstände und nur aufgrund vager Andeutungen einen wirklich fundierten Rat geben sollen? Ich merkte recht schnell, dass ich mich hier auf gefährliches Terrain begeben würde, und daher verwies ich diplomatisch auf die Daten und Fakten zur Tour in meinem Wanderführer.
Ein Wander-Guide braucht viel Empathie
Diese Konversation ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie stark die eigene Empathie in diesem Job ausgeprägt sein sollte, denn man findet sich oft ganz plötzlich auf argumentativ dünnem Eis wieder. Ich spürte, dass ich diesem Familienvater weder sagen konnte, er könne die Tour ohne Probleme angehen, noch konnte ich ihm vollends davon abraten. Ich hatte einfach zu wenig Informationen. Man darf in solch kniffligen Situationen keine Angst vor dem Ergebnis der Konversation haben – vor allem nicht davor, dem Gast etwas vorzuenthalten, geschweige denn ihn oder sie zu enttäuschen. Wer aufgrund eigener Unsicherheit alles „richtig“ machen will, ist in diesem Job sicher falsch. Nun gehöre ich aufgrund meiner Vorerfahrung (unter anderem führe ich Gruppen für den Deutschen Alpenverein durchs Gebirge) zu den erfahreneren Wander-Guides. Hinzu kommt mein Alter, aufgrund dessen ich mir selbst eine gewisse Lebenserfahrung zuspreche. Ich mag mir aber nicht ausmalen, wie ein Wander-Guide im zarten Alter von Anfang oder Mitte 20 – und die gibt es in diesem Unternehmen, für das ich auf Sardinien arbeitete, eben auch – sich selbst schadlos durch eine solche Konversation manövriert. Dabei ruhig bleibt, mögliche Grenzen und gleichzeitig Möglichkeiten selbstsicher aufzeigt und bei allem professionell-verbindlich wirkt. Ich behaupte: Das wird schwierig und kann, wie in meinem Fall, mitunter drastische Folgen haben.
Vier Monate als Wander-Guide auf Sardinien. Ich habe in dieser Zeit aber auch sehr viele wunderbare und erfüllende Momente erlebt. Wie großartig waren zum Beispiel die zahlreichen Barbecues unter offenem Himmel. Ich blickte aufs Meer, spürte eine sanfte, warme Brise auf meiner Haut, während von links der Duft des vor sich hin brutzelnden Spanferkels zu mir herüberzog und die gebratenen Doraden auf ihren Verzehr warteten. Dazu Gespräche, mal witzig, mal ernst. Ein Apérol Spritz an der Poolbar zum Eingrooven auf den weiteren Abend. Ich leitete zum ersten Mal in meinem Leben eine Yoga-Einheit. Führte aufgeschlossene Gäste durch eine Meditation, um ihnen Impulse für einen achtsameren Alltag zu geben. Ich danke dem Reiseveranstalter, dass ich das tun durfte und mir diesbezüglich ein großer Vertrauensvorschuss entgegengebracht wurde.
Während dieser vier Monate auf Sardinien habe ich liebe Menschen kennenlernen dürfen, zu denen ich im einen und anderen Fall auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland noch Kontakt halten werde. Jene, die das jetzt lesen, wissen, dass sie gemeint sind. Ich danke all den Gästen, die sich für den David hinter dem Wander-Guide interessierten, die mich auf meinen Wanderungen fragten, wie ich denn zu diesem Job gekommen sei und wie es danach vielleicht weitergehen wird. Die mir ein Feedback zu meiner Arbeit gaben, unabhängig vom Ausgang. Die Impulse sendeten, die wertvoll für mich waren. Für ehemalige, wander- und naturbegeisterte Gäste habe ich mittlerweile sogar eine eigene Whatsapp-Gruppe gegründet: „Schwarzwald Wandern“. Darin werde ich zukünftig über mein eigenes Wanderangebot informieren. Ist das nicht großartig?
Danke, Kollegen! Wir haben unsere Sache gut gemacht
Wenn ich daran denke, dass unser Team aus Teamleiterin und Guides im Grunde ein zusammengewürfelter Haufen Leute war, die sich nicht kannten und sich erst bei der Arbeit finden mussten, die diesen Job noch nie zuvor in ihrem Leben gemacht hatten, behaupte ich: Wir haben unseren Job gut gemacht. Die Rahmenbedingungen dafür waren beileibe nicht immer einfach. Nicht einfach zu handeln und hin und wieder auch nicht einfach nachzuvollziehen. Liebe Ex-Kollegen, liebe Senta, lieber Tom, lieber Torsten und lieber Jürgen – ihr wisst, wovon ich spreche. An dieser Stelle ist es Zeit, euch zu danken. Ich danke euch für die vielen witzigen, aber auch ernsten Gespräche. Für eure offenen Ohren und Herzen, wenn es mal persönlich wurde. Fürs Vergeben und Wiederfinden, wenn es mal krachte und wir aneinander gerieten (auch ich habe hier meinen Anteil daran, das bemerke ich durchaus selbstkritisch). Dass das nicht selbstverständlich und schon gar nicht erwartbar ist, weiß ich. Was auch immer ihr nach eurem Einsatz auf dieser wundervollen Insel tun werdet: Tut es von ganzem Herzen!
Vier Monate als Wander-Guide auf Sardinien. Eine meiner intensivsten, lehrreichsten und emotionalsten Zeiten geht nun zu Ende. A presto, Sardegna! Ich gehe mit weinenden Augen, aber mit lachendem Herzen.