Sollte die Presse alpine Rekordversuche medial begleiten? Welche Ziele werden damit eigentlich verfolgt? Der Tod zweier Extremsportler hat mich zu diesem Artikel animiert.
Die Lawine kam wohl kurz vor 7 Uhr nepalesischer Zeit. Für die Extrembergsteiger Sebastian Haag und Andrea Zambaldi war dieser 24. September 2014 der letzte Tag. Über 600 Meter riss sie die Wand aus Schnee in die Tiefe.
Den Rekordversuch, zwei Achttausender innerhalb von nur sieben Tagen zu besteigen und die Strecke zwischen den Bergen zu Fuß und auf dem Mountainbike zurückzulegen, hatte SPIEGEL ONLINE als einziges deutsches Medium mit einer Live-Berichterstattung intensiv begleitet. Wie die Redaktion in einer persönlichen Stellungnahme mitteilt, war man „beeindruckt vom Mut der Bergsteiger, von ihrem Sachverstand, ihrer präzisen Vorbereitung und auch von ihrer Risikobereitschaft.“ Aus journalistischer Sicht stellen sich mir dabei wichtige Fragen:
- Welche persönliche Verantwortung als Medium hängt an einer solchen Berichterstattung?
- Fördert diese Form der Berichterstattung nicht den Trend zu einem „Höher-Schneller-Weiter-Spektakulärer“?
- Warum berichtet ausgerechnet ein Nachrichtenmagazin über persönliche Rekordversuche?
- Welche Rolle spielten Sponsoren der Bergsteiger bei der Berichterstattung?
Fragwürdige Begründung von SPIEGEL Online
Die ersten beiden Fragen hat sich die SPIEGEL Online-Redaktion auch selbst gestellt. Ihre Live-Berichterstattung begründet sie so. Zitat: „Extremsportler führen uns immer wieder vor Augen, wozu Menschen in der Lage sind. Sie können uns begeistern: durch Mut, Selbstdisziplin, Teamgeist, das Ausloten von Grenzen. Indem sie Grenzen überschreiten, erschließen sie uns neue Welten.“
Diese Begründung überzeugt mich, der selbst journalistisch tätig ist, nicht. Ich kann nicht sagen, welche neuen Welten mir die verunglückten Bergsteiger erschlossen hätten, wären sie von ihrem Rekordversuch erfolgreich zurückgekehrt. Gerade weil Rekordversuche wie dieser so außergewöhnlich, so extrem sind, taugen sie nur bedingt als verallgemeinerbarer Mutmacher, als Motivationsanreiz, eigene Grenzen zu überschreiten. Dabei ist das Ausloten der eigenen Grenzen natürlich nicht per se verkehrt. Es ist sogar wichtig.
Boulevardesker Sensationsjournalismus
Die verunglückten Bergsteiger waren im wahrsten Sinne des Wortes extreme Persönlichkeiten. Wovon solche Geister getrieben werden, lässt sich als Laie schwer beurteilen. Auf den Einzelnen ist diese Art von Antrieb jedenfalls nur schwer übertragbar. Die Live-Berichterstattung von SPIEGEL Online hat das Potenzial, den Trend zu einem immer „Höher-Schneller-Weiter-Spektakulärer“, auch und gerade in den Bergen, zu befeuern. Diese Praxis erinnert mich eher an den boulevardesken Sensationsjournalismus eines Privatsenders wie „Servus TV“, der live über den Weltrekordsprung des Österreichers Felix Baumgartner aus rund 39 Kilometer Höhe berichtete. Für den Sender, im Eigentum einer Red-Bull-Tochter, die den Rekordversuch sponserte, übrigens ein riesiger Marketing-Coup.
SPIEGEL Online ging es nach eigener Aussage darum zu zeigen, wie mutig und entschlossen Menschen ein extremes Vorhaben umsetzen und dabei ihre eigenen Grenzen überwinden können. Aber ging es nicht auch – oder gerade – um die Befriedigung des Bedürfnisses der Leser nach Sensation, und am Ende um eine Steigerung der Besuchszahlen der eigenen Webseite? Das ist zwar legitim, aber das für Journalisten sonst ausschlaggebende Interesse der Öffentlichkeit an einer Berichterstattung dürfte bei diesem Rekordversuch weniger bestimmend gewesen sein.
SPIEGEL-Leser kritisieren die Live-Berichterstattung
Interessant finde ich einige Forum-Kommentare bei SPIEGEL Online, die die Live-Berichterstattung ebenfalls kritisch sehen:
„hobbyleser“ schreibt: „Auch wenn ich selbst ein großer Alpinismusfan bin, muss ich aber sagen, dass es mich herzlich wenig interessiert, ob da jemand jetzt noch rückwärts in Schwimmflossen oder mit Plastikbällen jonglierend auf den Everest rennt. Solche ‚Rekorde‘ sind aus meiner Sicht lächerlich und offenbaren pathologisches Ego und die Motivation von Sponsoring. Leute, akzeptiert‘s: Ihr seid keine Habelers, Hillerys oder Messners.“
„m_s@me.com“ schreibt am gleichen Tag: „Sollten solche fragwürdigen Versuche wirklich eine derart prominente Berichterstattung bekommen? Ist das eine gute Botschaft? Und was genau soll überhaupt die Botschaft sein?“
Nach welchen Maßstäben wird eigentlich berichtet?
Es bleibt auch unklar, wie die Maßstäbe für eine solche Berichterstattung angelegt werden: Wann wird berichtet und wann nicht? Welche Rolle spielen die Rekord-Protagonisten selbst? Warum wurde in anderen, vergleichbaren Fällen nicht derart berichtet? Ein klares Nein zu dieser Form der medialen Begleitung hätte Signalwirkung gehabt: Wir befeuern die Entwicklung zu immer spektakuläreren, lebensgefährlichen Rekorden gerade nicht. Wir machen den Trend nicht mit, die Berge zu einem Schauplatz für Rekorde verkommen zu lassen.
Laut eigener Aussage hat es sich die SPIEGEL-Redaktion nicht leicht gemacht mit der Entscheidung. Zitat: „Es gibt einfache Antworten auf diese Fragen, aber das sind selten die besten. Die Grenze zur Ignoranz wäre fließend.“ Einspruch! Manchmal lässt sich auch mit ganz einfachen Antworten Position beziehen. Mit einem klaren Nein zum Beispiel.