Am 24. Juni 2015 stand ich auf dem Gipfel des Ortler. Artikel und Video über meine zweite Hochtour, die mich an meine mentalen Grenzen brachte.
Es ist der Vortag der Hochtour auf den Ortler. Vom Bergdorf Sulden auf 1.900 Meter steigen wir zur rund 3.000 Meter hoch gelegenen Payerhütte auf. Hoch oben thront sie auf einem markanten Felsvorsprung mit atemberaubendem Ausblick hinüber Richtung Reschensee, Stilfser Joch und nach Osten gen Ötztaler Alpen. Wer über den Normalweg auf den Ortler möchte, sollte die Nacht vor dem Gipfelaufstieg in der Payerhütte verbringen. So gewöhnt man sich an die dünnere Luft in dieser Höhe.

Wir sind etwas später als geplant in Sulden losgelaufen und kommen erst am späten Nachmittag an der Payerhütte an. Es ist nicht viel los in unserer Unterkunft. Ende Juni sind noch nicht viele Besucher auf der Hütte, denn die meisten Hochtourengeher steigen in den Sommermonaten zum Ortler auf. Dass wir quasi eine Winterbegehung machen, sollte uns am nächsten Tag bewusst werden. Wir verstauen unsere Ausrüstung im Materialraum, in dem jetzt viel Platz ist, und setzen uns an einen der Tische im Gastraum der Hütte, um uns bei einer deftigen Mahlzeit auf den nächsten Tag zu fokussieren. Immer wieder schauen wir zum Fenster hinaus Richtung Gipfel. Das Wetter soll gut werden morgen.
40° Gefälle bringen mich an meine mentalen Grenzen
Nach dem Abendessen stellen wir unsere Wecker auf 4:15 Uhr. Es ist kalt im Schlafraum. Zum Glück schlafe ich recht bald ein, denn am nächsten Tag heißt es fit sein für den Gipfelanstieg. So schnell wie ich einschlafe, so schnell bimmeln auch die drei Wecker. Aufstehen, Katzenwäsche, anziehen. Noch halb schlaftrunken marschieren wir gegen 5:30 Uhr los. Das Thermometer zeigt Minus vier Grad, was zum allgemeinen Wachwerden beiträgt.
Wir laufen zunächst in Richtung Süden, links unter leuchten die Lichter des noch verschlafenen Sulden. Nicht lange und es beginnt zu dämmern. Vor uns sehen wir zum ersten Mal die Ausmaße des Schneefelds, über das wir gehen müssen. Das Teilstück ist länger als von der Hütte aus angenommen – und sieht jetzt viel steiler aus. Vor uns ist eine Zweier-Seilschaft unterwegs, die das Schneefeld bereits erreicht hat. Schon bald schnallen auch wir unsere Steigeisen an und steigen ins Schneefeld ein.
Es ist beängstigender als gedacht: Das Schneefeld liegt um diese Uhrzeit noch im Schatten und ist deshalb komplett verharscht. Plötzlich wird mir sein ganzes Ausmaß bewusst. 40° Gefälle! Das Schneefeld entpuppt sich als eine einzige riesige Eisplatte, auf der ein Stolpern mit anschließendem Sturz tödlich enden kann. Eine Auslaufzone ist jedenfalls nicht zu erkennen. Mich packt ein Schaudern, das vorerst nicht vergehen mag. Damit ich mich besser konzentrieren kann, spreche ich meine Schritte laut vor mich hin: Rechter Fuß, linker Fuß, Pickel – rechter Fuß, linker Fuß, Pickel – rechter Fuß, linker Fuß, Pickel usw. usf. Nach rund 70 Metern ist es geschafft.
Nach vier Stunden stehen wir auf dem Gipfel des Ortler
Der anschließende Gang über den Gletscher mit verschneiten Spalten kommt mir nicht halb so gruselig vor. Trotzdem müssen wir aufpassen, wo wir hintreten. Hier und da können wir in kleine, schwarze Schneelöcher ins Nichts schauen. Pause. Wir befinden uns unmittelbar unterhalb des Gipfels auf einem exponierten Plateau. Nichts als Schnee. Der Wind nimmt zu, lange können wir hier nicht rasten.
Die letzten Meter zum Gipfel. Nach rund vier Stunden erreichen wir das Gipfelkreuz, das um diese Jahreszeit fast komplett unter dem Schnee begraben ist. Wir umarmen uns, klatschen uns ab. Berg heil! Wir setzen uns mit Blickrichtung Süden an eine windgeschützte Flanke. Vor uns fällt der Hintergrat steil ab, im Tal liegen Hintergrathütte und Sulden. Vor uns die Königspitze, der Monte Zebru und der Monte Cevedale. Und wir auf dem Hauptgipfel der Ortler-Alpen. Ich finde keine Worte. Einerseits liegt das an meiner körperlichen Verfassung, andererseits am Staunen darüber, in welcher großartigen – und unwirtlichen – Landschaft wir uns gerade befinden. Was bleibt, ist Stolz, und eine Erinnerung, die mich mein Leben lang begleiten wird.
Wahnsinn! Gut beschrieben und wunderschöne Bilder!
Danke, danke, danke Kollegin! Freut mich. 🙂
Sehr beeindruckend. Ich war mittendrin.
Danke für die schönen Bilder!
Lieber Matthias, gerne geschehen! Freut mich, dass dir der Film gefällt. 🙂