„Es gab Jahre, in denen war ich 340 Tage unterwegs.“ Ivo Meier von der Bergschule „Alpine Welten Die Bergführer“ über sein Dasein als Bergführer .
Ivo, kannst du dich noch an deine erste Tour als Bergführer erinnern?
Ja. Das war ein Hochtouren-Kurs für Einsteiger auf der Gandegghütte im Wallis. Ich war sehr aufgeregt, denn ich musste ja auf die Erwartungen der Teilnehmer eingehen und diese auch so gut es geht erfüllen. Auch wegen des Wetters habe ich mir Gedanken gemacht: Hoffentlich gibt es keinen Nebel, damit ich mich nicht verlaufe. Außerdem dachte ich an die Ausbildungsinhalte und dass ich auch ja nichts vergesse. Zudem fragte ich mich, wie ich die Teilnehmer korrigieren soll. Berichtige ich sie alle fünf Minuten, oder gebe ich ihnen einfach ein gutes Gefühl und versuche am Ende des Tages auf die wichtigsten Punkte einzugehen? Am Ende jedoch hatten wir alle eine Menge Spaß und Freude an diesem Kurs.
Wie ging es dir, als du zum ersten Mal die Verantwortung für eine Gruppe hattest?
Es ist mir erst einmal nicht so schwer gefallen, Verantwortung für mich und die Gruppe zu übernehmen, da ich schon in der Bundeswehr viel Erfahrung mit Menschen gemacht hatte. Doch die Verhältnisse am Berg und die Witterungsbedingungen sind nicht immer gleich. Das heißt, ich muss die Risiken einer Tour immer wieder aufs Neue kritisch hinterfragen. Schon im Vorfeld hole ich mir Informationen über mögliche Gefahrenstellen, übers Wetter und über den Tourenverlauf ein und überprüfe das während der Tour auch kritisch.
Verantwortung für eine Gruppe zu haben heißt immer zu beobachten, wie es den Teilnehmern geht und wie es um ihre körperliche und psychische Verfassung bestellt ist. Schaffen sie die Tour, haben sie Freude daran oder sind sie eventuell überfordert? Es ist eine permanente Herausforderung, diese Grenzen einzuschätzen und damit umzugehen. Aber gerade das macht den Job des Bergführers für mich so interessant.
Die Teilnehmer einer Bergtour bringen in der Regel unterschiedliche körperliche und mentale Voraussetzungen mit. Wie gelingt es dir, diesen Spagat zu meistern?
Nach der Begrüßung versuche ich die Erwartungshaltung meiner Gäste herauszukitzeln. Das ist wichtig für eine erste grobe Einschätzung, wie die Teilnehmer auf mich und auf die bevorstehende Tour wirken. Wenn bereits hier Differenzen, Fehleinschätzungen oder sogar Selbstüberschätzung sichtbar werden, zieht sich das meist auch durch die ersten Tourentage. Das kommt aber eher selten vor.
Dann sehe ich recht schnell, wie sich die Teilnehmer auf der Tour geben und wie sie mit den körperlichen und geistigen Anforderungen umgehen. Da ich ein sehr positiver Mensch bin, versuche ich in diesem Kontext Vieles möglich zu machen. Ich orientiere mich zwar immer am Wohlbefinden der Teilnehmer, lasse sie aber dennoch hier und da Grenzerfahrungen machen. Sie sollen schließlich wissen, was es heißt, auch bei nicht perfekten Bedingungen in den Bergen oder im Hochgebirge unterwegs zu sein. Wind, Regen oder sogar Schnee gehören eben oft dazu.
Etwas schwieriger ist die Situation bei zwei Teilnehmern, die sich beide nicht kennen und bei denen die jeweiligen Fähigkeiten und die Leistungsstände unterschiedlich ausgeprägt sind. Da müssen beide sehr viel Fingerspitzengefühl und Toleranz zeigen. Hier bin ich wiederum als Bergführer gefragt, einen Ausgleich zu finden sowie Vor- und Nachteile dieser Konstellation aufzuzeigen, die daraus entstehen können.
Lassen wir die fachliche Qualifikation einmal außen vor. Was macht in deinen Augen einen guten Bergführer aus?
Eine schwierige Frage, denn ich war selbst noch nie mit einem Bergführer unterwegs (lacht). Zum einen bin ich Dienstleister. Das heißt, meine Teilnehmer müssen mir vertrauen können. Dadurch bekomme ich viel Handlungsspielraum und kann mich auf das Wesentliche konzentrieren. Manchmal erhebe ich aber auch den Anspruch an mich selbst, Pädagoge, Erzieher und Ausbilder zu sein und nur ein wenig Bergführer. Das Wichtigste ist für mich aber die Sicherheit: die Teilnehmer im Tal abholen, auf einen Berg führen und gesund wieder am Ausgangsort absetzen.
Dann versuche ich, den Teilnehmern einen positiven und engagierten Eindruck von mir zu vermitteln. Ich möchte das möglich machen, was geht. Die Tour soll sie fordern, aber nicht überfordern. Auch ein gewisses Abenteuer ist wichtig. Ich bin überzeugt: Nicht nur der Berg zählt. Es ist eher das Rundum-Paket. Schließlich bin ich mit den meisten Teilnehmern 24 Stunden am Tag unterwegs. Da ist es wichtig, dass sich jeder wohlfühlt. Dazu gehören Dinge wie nette und interessante Gespräche oder Tipps während der Tour, wie man etwas besser machen kann. Wichtig finde ich auch, die Teilnehmer in die Tour-Planung einzubeziehen, damit sie Ideen für die zu gehende Route entwickeln oder mögliche Gefahrenstellen erkennen. Ich glaube, Bergführer sollten authentisch sein. Sagen die Teilnehmer hinterher, das war eine echt geile Tour, die ich da mit Ivo gemacht habe, bleibt das auch in Erinnerung. Wenn dann noch lustige Dinge auf dem Gipfel dazukommen, zum Beispiel eine ungezwungene Gipfelmosh-Einlage mit lustigen Fotos, ist das doch ein perfekter Tourentag.
Was für eine Einlage, bitte?
Gipfelmoshing (grinst). Das ist die sportliche Variante des Headbanging, irgendwie eine Mischung aus Metal und Alpinismus. Du stehst auf dem Gipfel und nimmst eine lockere Gitarrenpose ein, am besten mit dem Eispickel als Gitarre. Dabei trillerst du ein Lied. Erfunden haben das, glaube ich, zwei Alpinistinnen aus Bayern, die irgendwann einmal andere Gipfelfotos machen wollten als die sonst üblichen. Die haben sogar eine Webseite darüber gemacht. Als ich das gesehen habe, dachte ich mir: Das musst du auch machen. Heute ist das fast schon ein Ritual und die Teilnehmer meiner Touren „spielen“ und singen schon nach wenigen Sekunden eifrig mit. Vor allem lassen sich so lustigere Gipfelfotos schießen, die sie nach der Tour immer wieder gerne ansehen. Ein kleiner Mehrwert, den ich ihnen auf meinen Touren vermittle.
Haben sich die Ansprüche der Kunden an dich als Bergführer verändert? Wenn ja, woran machst du das fest?
Nein, nicht die Ansprüche haben sich verändert, sondern die Erwartungshaltung. Um es einfach zu sagen: Habe ich eine niedrige Erwartungshaltung, kann ich eigentlich nur belohnt werden. Ist sie aber sehr hoch, bleibt nicht mehr viel, um sie zu befriedigen.
Meiner Meinung nach sollte eine Bergtour oder ein Gipfel nicht konsumiert, sondern gelebt werden. Fundamental in dieser Hinsicht ist es, mit einer entspannten Haltung an einen Berg heranzutreten. Ich führe nach dem Motto vieler bekannter Bergsteiger: Einen Berg kann man nicht bezwingen, nur besteigen oder besuchen. Deshalb verspreche ich meinen Teilnehmer nie, dass wir den Gipfel auf jeden Fall erreichen werden. Gerade bei Teilnehmern, die sich schon länger kennen, entsteht relativ schnell eine Gruppendynamik. Hier bin ich eher als Coach und Teamtrainer gefragt.
Stell dir vor, auf dem Weg zum Gipfel schlägt das Wetter um und du entscheidest umzukehren. Deine Gruppe aber möchte weiter. Worauf kommt es in einer solchen Situation an?
Sicherheit steht an oberster Stelle. Wenn ich als Bergführer aber in einen großen Wetterumschwung gerate, habe ich wohl schon bei der Planung der Tour einen Fehler gemacht. Je nach Wetterlage muss man situationsbedingt entscheiden. Es ist etwas anderes, ob Nebel oder Wind aufkommen oder ob ein Gewitter aufzieht. Dieses stellt eine unmittelbare Gefahr für die Teilnehmer dar, also gibt es auch wenig Grund zu diskutieren, ob man umkehrt oder nicht. Mein Wort ist in einem solchen Fall bindend. Bei einsetzendem Schneefall ist es wieder etwas anderes. Da werde ich nicht gleich umkehren, sondern auch mit der Gruppe kommunizieren, inwieweit es noch sinnvoll ist weiterzugehen und ob es bei diesen Verhältnissen noch Spaß macht.
Einmal stand ich mit einem Gast bei Nebel und einer Windgeschwindigkeit von zirka 70 Kilometern pro Stunde auf dem Mont Blanc. Ich fragte, ob er weiter zum Gipfel wolle. Er wollte unbedingt. Zwar war das Wetter nicht optimal, aber die Tour nach wie vor durchführbar. Am Ende bleibt es also immer eine Einzelentscheidung vor Ort.
Ein Leiter einer anderen Bergschule sagte einmal, Bergführer seien heute viel mehr unterwegs als früher, sie führten ein Zigeunerleben. Kannst du das bestätigen?
Mit einem Zigeunerleben würde ich meinen Beruf nicht vergleichen. Es gibt auch andere Menschen, die zum Beispiel wochenlang auf Montage sind. Als Zigeuner würde ich die nicht bezeichnen. Ich gestalte mein Leben so, wie ich es für richtig halte. Ich gehe mit Leidenschaft in die Berge, und es macht mir Spaß, Entscheidungen zu treffen. Berge vermitteln mir etwas Mystisches, Abenteuerliches. Doch gerade auch die Menschen, die mich begleiten, sind für mich ein Abenteuer. Verschiedene Charaktere und Eigenarten – das alles macht die Bergführerei für mich zu einem besonderen Beruf.
Trotz allem musste ich mich erst einmal an diesen Beruf herantasten. Es gab Jahre, in denen war ich 340 Tage unterwegs. Das ist mir mittlerweile zu viel. Im Moment liege ich bei 160 Tagen pro Jahr, und an 40 Tagen arbeite ich zu Hause im Büro. Früher habe ich viel im Auto übernachtet, heute gönne ich mir den Luxus und nehme mir für die eine oder andere Nacht eine Pension mit Fernsehen und Dusche.
Wer kümmert sich während deiner Abwesenheit eigentlich um Dinge wie die Post?
Ich erledige fast alles per E-Mail. In den Sommermonaten leeren Freunde und Bekannte einmal pro Monat meinen Briefkasten.
Was tust du, um nach einem anstrengenden Tourentag wieder runterzukommen?
Nach einer längeren Tour oder nach mehreren Tourenwochen gehört der erste Tag nur mir allein. Das heißt keine Anrufe, keine E-Mails, kein Kontakt zu Freunden. Ich nehme meine Gitarre und spiele oder komponiere, das ist mein Ausgleich zum Bergsteigen. Danach kann man mich wieder auf die Gesellschaft loslassen (grinst).
Was war dein bislang heikelster Moment auf einer Bergtour?
Das Heikelste waren wahrscheinlich Touren außerhalb des kommerziellen Bergführens, am K2, wo es schon zum einen oder anderen Todesfall gekommen ist. Das ist eine Welt, in der man mit klassischem Bergsteigen nicht weit kommt.
Also bist du auch Extrembergsteiger und warst schon auf dem K2 oder hast versucht, ihn zu besteigen?
Das war ich einmal, heute nicht mehr. Mit der Zeit wird man ruhiger. Aber ja, der K2 stand mal auf meiner Agenda. Ich hatte dort viele interessante und bewegende Eindrücke. Für mich war der Versuch, den Gipfel zu erreichen, eine intensive Selbsterfahrung. Das betrifft die logistischen Voraussetzungen, aber vor allem auch die aufkommende Euphorie an einem solch umkämpften Berg. Den Gipfel habe ich übrigens nicht erreicht, ebenso wie alle anderen Bergsteiger, die es zu diesem Zeitpunkt versuchten. Die Wetterumschwünge dort sind immens, haben enorme Ausmaße. Und sie passieren innerhalb weniger Stunden. Meine Entscheidung, die Aufstiegsversuche nach neun Wochen abzubrechen, war aber vor allem dem tödlichen Absturz eines guten Bergkameraden und Zeltnachbarn geschuldet.
An welches Erlebnis als Bergführer erinnerst du dich besonders gern?
So auf Anhieb fällt es mir schwer, da ich bislang sehr viele Bergtouren gemacht habe und jede für sich gesehen schön war. Ein Erlebnis war aber doch speziell: Ich war einmal mit fünf Frauen unterwegs, die mich erst nicht als Bergführer, sondern als Reiseleiter betrachtet haben. Am Ende der mehrtägigen Tour haben sie mich dann noch gefragt, ob sie mich als Sohn adoptieren könnten (lacht).